Wie erklären wir das bloss unseren Kindern?

Die Schweiz ist winzig, die anderen Länder sind viel schlimmer und
wir wollen unserer Wirtschaft nicht schaden. Mit diesen Argumenten
hat der Nationalrat diese Woche das CO2-Gesetz weichgespült.
Resultat: Die Schweiz kompensiert den CO2-Ausstoss im Ausland
– und gibt damit ein ganz schlechtes Beispiel ab. Die Wirtschaft
freuts – aber wie erklären wir das jenen Kindern, die eine Zeit erleben
werden, in der es in der Schweiz keinen einzigen Gletscher
mehr geben wird? Wie erklären wir das bloss unseren Kindern?

Jeden Tag kommen in der Schweiz im Schnitt rund 238 Babys zur Welt.
In einer Woche sind das 1666 Kinder, etwa 1200 Kinder von Montag bis
Freitag. Legt man die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz
zu Grunde, werden jene 1200 Kinder, die seit Anfang Woche zur Welt
gekommen sind, das Jahr 2100 erleben. Eine Jahreszahl, die im letzten
Jahrhundert geborenen Menschen (wie mir) nach Science Fiction tönt.
Doch die Zukunft ist näher, als wir denken.

Für das politische Handeln in der Schweiz sollten diese 1200 Kinder der
Massstab sein. Welche Welt hinterlassen wir diesen Kindern? Wie müssen
wir uns verhalten, dass die Schweiz im Jahr 2100 lebenswert ist? Dass
man die Luft noch atmen kann, die Flüsse noch Wasser führen und in
den Alpen noch Gletscher zu sehen sind? Wie extrem die Situation ist,
zeigt sich gerade an den Gletschern: Bis im Jahr 2100 wird fast die gesamte
Eisfläche in der Schweiz verschwunden sein. Auch in den günstigeren
Szenarien können die Schweizer Gletscher kaum mehr gerettet werden.
Warum kommt es deswegen in der Schweiz, die doch ihre Identität aus
den Alpen ableitet, nicht zum Aufstand?

Schulterzucken im Nationalrat
Denn im Moment herrscht hierzulande das grosse Schulterzucken. Der
Nationalrat hat diese Woche beschlossen, auf eine generelle Vorgabe zur
Reduktion des CO2-Ausstosses im Inland zu verzichten. Die Schweiz hat
sich zwar im Rahmen des Pariser Klimaabkommens dazu verpflichtet,
die Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 50 % zu
senken. Es steht aber nirgends geschrieben, wo diese Senkung zu erfolgen
hat. Der Bundesrat wollte, dass immerhin drei Fünftel dieser Reduktion
im Inland zu geschehen hat. Dagegen haben sich FDP und SVP erfolgreich
gewehrt. Sie wollen keine Quoten festgeschrieben haben. Die
Schweiz soll die Senkung des CO2-Ausstosses lieber im Ausland kaufen,
als selbst aktiv werden zu müssen. Selbst die bürgerliche «NZZ» spricht
von einem «Ablasshandel».

Was wir hier tun, kommt einem Tropfen auf den heissen Stein gleich. Wenn
die anderen gar nichts tun, dann bringt das nichts, erklärte Christian Immark
(SVP, SO) im Nationalrat. Für einmal machen die Bürgerlichen die
Schweiz klein und erklären, es bewirke weltweit nichts, wenn die Schweiz
sich anstrenge. Hansjörg Knecht (SVP, AG) etwa erklärte: Der Schweizer
Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen beträgt knapp 1 Promille. … Im
Jahre 2017 betrug alleine die weltweite Ausstosserhöhung das Zehnfache
des Schweizer Ausstosses. Das sind Dimensionen, die uns zu denken geben
müssen, nicht ein Promille-Anteil, von dem wir allenfalls noch die Hälfte
reduzieren.6 Das stimmt – aber mit welchem Recht können wir von den
Indern verlangen, ihren CO2-Ausstoss zu begrenzen, wenn wir nicht
selbst mit gutem Beispiel vorangehen?

Perspektive des Jahres 2100
Die Damen und Herren Nationalräte haben mit der Belastung argumentiert,
die eine CO2-Abgabe für das Gewerbe bedeutet und mit der
Belastung einer Verteuerung des Benzins für die Bevölkerung. Sie haben
sich also gefragt: Was bedeutet eine CO2-Abgabe für die Schweizer Bevölkerung
heute? Ich meine, das ist die falsche Perspektive. Wir müssen
die Perspektive der 1200 Kinder einnehmen, die seit Anfang Woche zur
Welt gekommen sind: Haben wir aus der Sicht eines Menschen, der im
Jahr 2100 82 Jahre alt wird, im Jahr 2018 genug getan gegen die Klimakrise?
Haben wir also die Verantwortung unseren Kindern gegenüber
wahrgenommen?

Wenn Ihnen das Jahr 2100 zu weit weg ist, können wir auch das Jahr 2030
nehmen. Auch das klingt noch weit weg. Aber uns trennen nur noch 12
Jahre vom Jahr 2030. Das sind nur drei Legislaturen in Parlament und
Bundesrat. Es kann also gut sein, dass die beiden Bundesrätinnen, welche
diese Woche von der Bundesversammlung gewählt worden sind, dann
noch im Amt sind. Genügt es wirklich, wenn die Schweiz bis dahin den
CO2-Ausstoss nur auf dem Papier, also per Ablasshandel mit Entwicklungsländern,
um 50 % gegenüber 1990 reduziert? Sollte unser reiches
Land nicht mehr unternehmen?

Perspektive der Klimakrisenleugner
Wenn ich etwas über das Klima schreibe, erhalte ich immer wieder (und
meist von denselben Leuten) Zuschriften, das sei eine Lüge. Das Wetter
ändere sich nun mal, die Gletscher seien schon immer mal vorgestossen,
mal hätten sie sich zurückgezogen, das sei halt so. Wer sich nur ein bisschen
mit der Klimakrise beschäftigt, der stellt fest, dass vielleicht nicht
der Wandel, sehr wohl aber seine Geschwindigkeit aussergewöhnlich ist.
In den letzten 150 Jahren hat sich die Erde in unglaublicher Geschwindigkeit
erwärmt und der Temperaturanstieg liegt weit jenseits von allem,
was in der Erdgeschichte bekannt ist.7 Auch der Gletscherrückgang
erfolgt so schnell wie noch nie in der Erdgeschichte. Beides, Temperaturanstieg
und Gletscherrückgang, korrelieren mit den Emissionen von
CO2 in die Atmosphäre und das heisst mit der Verbrennung von fossilen
Energieträgern. Es gibt schon lange keinen Zweifel mehr: Dafür ist der
Mensch verantwortlich.

Wir sind dafür verantwortlich. Und die Erde erwärmt sich so schnell,
dass ein Menschenleben ausreicht, um die Konsequenzen zu erleben.
Aber nehmen wir mal an, das alles sei nicht so sicher. Es sei nicht so eindeutig,
dass wir Menschen schuld sind am Klimawandel. Nehmen wir
also an, es gäbe eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Erwärmung des
Klimas ein natürliches Phänomen sei. Und jetzt nehmen wir noch einmal
die Perspektive eines jener 1200 Kinder an, die im Jahr 2100 leben
und dann 82 Jahre alt sind: Wie müssen wir uns heute verhalten, dass
wir diesen Kindern in 82 Jahre unter die Augen treten könnten? Müssten
wir nicht auch dann etwas gegen die Umweltverschmutzung unternehmen,
wenn nicht eindeutig bewiesen wäre, dass wir Menschen und unser
CO2-Ausstoss am Klimawandel schuld sind? Wären wir nicht auch dann
dazu verpflichtet, der Welt Sorge zu tragen, weil sie uns nicht gehört, sondern
wir nur eine kurze Zeit auf dieser Welt zu Gast sind?

Auf die Kinderperspektive kommt es an
Entscheidend für unser politisches Handeln in der Gegenwart sollte nicht
der unmittelbare Profit und die Entwicklung der nächsten paar Monate
sein, sondern die Perspektive der Kinder, die heute zur Welt kommen.
In der Wandelhalle des Bundeshauses sollte deshalb ein Liveticker eingerichtet
werden, der die Parlamentarier darüber informiert, wie viele
Kinder gerade zur Welt kommen. Vor diesen Kindern muss ihr Handeln
Bestand haben, nicht vor den Lobbyisten und Interessenvertretern in der
Wandelhalle.

Und natürlich gilt das nicht nur für die Parlamentarier im Bundeshaus.
Es gilt für uns alle: Wie müssen wir uns heute verhalten, dass jene 1200
Kinder, die seit letztem Montag zur Welt gekommen sind, auf dieser Welt
alt werden können? Wie wird die Welt aussehen, die wir diesen 1200 Kindern
hinterlassen?

Basel, 7. Dezember 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Quelle:  www.matthiaszehnder.ch – Wochenkommentar & mehr